( Schutzhütte )

   Eine Schutzhütte im Wald.
   Ich besuche sie regelmäßig, setze mich hinein und fühle mich wohl. Die Hütte hat drei Fenster in drei Richtungen an drei Seiten und einen Eingang an einer vierten. Durch die Fenster kann ich in den Wald schauen und auch auf einen Weg und da sehe ich manchmal Menschen, die sehen mich aber nicht und irgendwie mag ich das. Es macht das Gefühl, in Ruhe zu sein.
   Ich schaue mich dann um. Mein Blick wandert die Wände entlang und nach oben und nach unten auf den Boden. Die Hütte ist so schön einfach geformt, die Wände aus gro- ben, rundlichen Balken, horizontal bis zur Traufe aufeinan- dergeschichtet. In den Ecken und an Fenstern und am Ein- gang sind sie zusätzlich vertikal eingearbeitet. Die Decke ist offen gestaltet, ein paar Balken sorgen für Stabilität, dann kommt ein Dreieck aus gar nichts und dann das Dach. Der Boden ist offenporig; Erde, Staub. In die Wände haben sich Besucher verewigt, mit kleinen Initialien, das machen Menschen so an solchen Orten. Im sandigen Boden sind ver- wischte Abdrücke von ihren Schuhen.
   Ich ziehe mit meiner Kamera dem eigenen Blick nach, kreisförmig, ich möchte den Raum mit der Ka- mera vermessen. Dabei leuchte ich ihn mit einem Blitz aus. Je nach Länge der Belichtung und Intensität des Blitzes kann ich das Verhältnis zwischen meinem Licht hier drinnen und dem natürlichen Licht draußen beeinflussen. Mal erscheint es, als wäre es draußen Nacht, ich stelle mir das so vor und später, auf den Kontakten, sehe ich es dann auch so. Die beiden Räume, das Drinnen und das Draußen gehen eine Beziehung ein, haben jetzt Werte bekommen und Bedeutung.
    Mit dem abfotografieren wird der Raum zweidimensional, auf einmal ist er nicht mehr räumlich und damit nicht mehr das, was ihn eigentlich ausmacht. Durch das Abtasten mit meiner Kamera arbeite ich ein bisschen wie ein Echolot. Ich zeige dann das Bild des Negativstreifens, als Kontaktabzug und als einen Versuch, diese Schutzhütte in ihrem Ganzen zu erfassen.





( Kleine Hütte )

   Auf einem meiner Erkundungsgänge stoße ich auf eine kleine Hütte, auf die ideale Hütte sogar, als diese erkenne ich sie jetzt, da ich sie sehe. Dass ich schon lange nach ihr gesucht habe wird mir in diesem Moment erst deutlich. Die Form und Proportion dieser, meiner Hütte ist ideal, sie ist die Metapher für die Idee einer Hütte.
        Ich mache ein erstes Foto.
    Der in der Nacht zuvor dünn gefallene Schnee malt eine Grenze zwischen dem Außen und dem inneren Schutz- raum der Hütte, zwischen ihr und den hohen, dunklen Bäumen im Hintergrund und man möchte sich vor ihnen ver- stecken. Das Bild folgt nun endlich dem Gefühl das mich suchen lässt, jetzt entsteht es langsam vor meinem inneren Auge. Ich nähere mich ehrfürchtig, dabei bewege ich mich langsam kreisförmig und in großem Abstand um die kleine Anhöhe auf der sie steht, will keine Spuren in der frischen Schneedecke hinterlassen.
    Nur eine einzige Seite der kleinen Behausung ermöglicht einen Zugang ins Innere. Die Tür fehlt gänzlich und oberhalb des Türrahmens lässt ein Spalt, wo früher Bretter waren, hineinblicken und das innen blickt heraus, sieht mich an und fragt mich, ob ich denn nicht eintreten wolle. Es beginnt zu schneien und der Himmel wird dicht und hell und das Dach und die Wände sagen ich schütze dich vor dem Wind und der Nässe, hier drin bist du sicher.
        Ich fotografiere wieder, dann trete ich ein.
    Als ich die Schwelle überschreite, empfängt mich eine Atmosphäre der Stille und Zurückgezogenheit. Inmitten der Werkzeuge und verschiedenen Dinge, die von vorherigen Besuchern zurückgelassen wurden und nun an der Wand lehnen und auf dem Boden liegen, fühle ich mich wie ein Besucher in einer Zeitkapsel, der den Geschichten vergangener Momente nachhört.
        Ich drücke den Auslöser meiner Kamera, es blitzt, den Film um ein Bild weiterdrehen.
    Die Rechen und Schaufeln an der Wand und das seltsame Stück Beton und Zaunreste am Boden erzählen von harter Arbeit, aber von der Sor-  
te Arbeit, deren Ergebnis man sehen und spüren kann, die dann auch zufrieden macht. Ich rieche die frisch gemähten Wiesen draußen um die Hütte herum und dann das Heu und weiß plötzlich wie die Luft flimmert im Sommer.
    Auf die letzten Negative belichte ich das Draußen, das zur Hütte hineindringt.





( Unser Haus )

    Ich habe Dias gefunden vom Rohbau des Hauses meiner Großeltern, ca. 1963.
    In Gedanken wandele ich oft durch das Haus, mein Traumhaus. In meiner Erinnerung lebt alles, ich kenne jeden Winkel, jedes Detail, die inneren Bilder sind klar und vertraut. Mit den Bildern kommen Geräusche von Treppen und Türen, die Terassentür und die zum Flur, wie sie klingen wenn man sie aufschiebt, und mit den Geräuschen erinnere ich Gerüche. Ich rieche die Luft vor dem Haus und die Böden und Wände in jedem Zimmer. In der Küche steht meine Großmutter und kocht. Ich sehe sie vor mir und rieche das Waschmittel in ihrer Kleidung und kann sie hören, wie sie mit uns spricht wenn wir vom Hof hereinkommen.
    Denkt man das alles, die Einrichtung und die Dinge im Haus und alles, was lebt weg, bleibt die Grundform des Hauses, also die Wände, Decken und Böden. Ich sehe unser Haus nun als Skelett, als Essenz, in Konsequenz als das Eigentliche. Diese Form hüllt meine Erinnerungen ein und damit alles, was das Haus belebt hat. Und diese Form habe ich auf den alten Dias wiedergefunden, als Abbildungen der Mauern, fotografiert in verschiedenen Stadien und aus verschiedenen Perspektiven. In dieser einfachen Form liegt die ganze Kraft der Erinnerung.
    Ich baue die Form nach. Wie im echten Haus setze ich Stein auf Stein, ja, richtig gesehen, die be- kannten Klemmbausteine. Aus denen baut das Kind in uns seine Träume. Ich baue im Jetzt vorwärts und in der Erinnerung rückwärts, das innere Bild wird immer klarer und dann fotografiere ich es ab, so in der Art wie es damals auch in der Realität zu sehen war. Mein Traumhaus ist durch die Fotografie von der Möglichkeit zur Wirklichkeit geworden.





( Reh )

    Dieses Jahr habe ich zwei Dinge gesucht: Steinpilze und tote Rehe. Die Pilze zum Essen, ein Reh zum fotografieren. Dafür habe ich Jäger gebeten, mich anzurufen wenn sie eines erlegt haben, ich bräuchte es dann, wenn die Sonne mal schiene, für 20 Minuten um es kurz “wo drauf zu legen”. Die meisten haben nicht verstanden, was ich machen will. Am Ende hat sich von fünf Jägern kein einziger gemeldet, nicht mal einer derer, die der Sache aufgeschlossen waren. Jemand meinte auch mal es gäbe heuer kaum Wild.
   Ich hab auch den ganzen Sommer und Herbst nach Steinpilzen gesucht. Und keinen einzigen gefunden, auch nicht an Stellen, die letztes Jahr voll davon waren. Fast jeden zweiten Tag war ich im Wald. Es war wohl zu trocken das Jahr über. 
Bei einem der letzten Streifzüge lag dann da das Rehkitz, ganz jung war es gestorben, vielleicht drei oder vier Monate hat es erlebt. Nachdem ich es mitgenommen und fotografiert hatte, habe ich es wieder zurück in den Wald gelegt.

Hannah Sachsenmaier in:
roomtone whisper, S. 56
    »Das Kitz hängt dort, abgebildet auf einem quadratischen großen Tuch, über dem gemachten Bett; verschwommen und bläulich schwebt sein fragiler Körper mit den feinen, bewegten Beinchen unwirklich und gespenstisch über dem dunkelblauen Untergrund. Ob es durch die Leere weiterschreitet oder es, perspektivisch von oben betrachtet, dort tot liegt, lässt sich auf der fotografischen Abbildung nicht endgültig bestimmen, in jedem Fall wird es in diesem eingefrorenen Zustand für eine Ewigkeit konserviert; so wie es da war, ist es und bleibt es. Das Foto transportiert, nach Roland Barthes (Die Helle Kammer), „einen rätselhaften Punkt von Inaktualität, eine seltsame Stauung, Inbegriff eines Stillstands“ und mag den Tod gerade hervorbringen, „indem es das Leben aufbewahren will.“ Barthes’ Formulierungen zu Zeit als Punctum der Fotografie sind drastisch, das Gefühl, es mit bereits Vergangenem zu tun zu haben, lässt sich jedoch auch in den Ansichten aus dem Inneren der Villa Nix nicht abschütteln, ist diesen doch das Stigma der Momentanität ihres Zustands immanent. Kurze, stillgestellte Augenblicke aus einem beharrlich fortschreitenden Prozess; Kulissen, über die sich die Notwendigkeit des Lebens und der Veränderung überträgt.«





( 162173 )

   Es ist dunkel und ich finde mich plötzlich auf einem kargen Fremdkörper, der durch das Tiefschwarz des Weltalls zu fliegen scheint, wieder. Nun weiß ich eigentlich dass ich nicht im Weltall bin denn ich bin ja hier her gekommen, zu Fuß, aber meine Kamera weiß das nicht. Sie sieht nur ihre eigene Behauptung und durch sie sehe ich in eine neue Welt, die eines fremden Himmelskörpers, zumindest könnte man das glauben beim Betrachten der Fotografien, die ich wie Proben von diesem Ort mitnehmen werde.
    Im Mai 1999 wird im Rahmen des Lincoln Near Earth Asteroid Research Projects für die Erforschung erdnaher Asteroiden der später auf den Namen 162173 Ryugu getaufte Asteroid entdeckt. Der Name bezieht sich auf Ryūgū-jō, übersetzt Drachenpalast, einen magischen Unterwasserpalast in einem japanischen Volksmärchen. In dem Märchen reist der Fischer Urashima Tarō auf dem Rücken einer Schildkröte zum Palast und bringt eine schwarze Kiste mit Geheimnissen zurück, ähnlich wie die japanische Sonde Hayabusa2, die 2018 nach einer Mission zur Erforschung des Asteroiden mit einer Kapsel voller Gesteinsproben und eben auch Fotos von der Oberfläche zurückkehrt. 
    Auf diesen Fotos ist eine zerklüftete Landschaft zu sehen. Die im Vordergrund vom harten Licht der Sonde aufgehellten Felsbrocken strahlen hell auf und werfen scharfkantige Schatten nach hinten, wo das Gestein von immer weniger Licht erreicht wird und schließlich jäh abfällt in das unendliche Dunkel des Universums. Ein durch künstliches Licht belebtes Panorama.
    Es finden sich keine Indizien für die Dimensionen dieser Landschaft. Aber wohl einmal wieder welche für bisher unentdecktes Leben; dies zu finden ist schließlich das große Versprechen hinter dem Drängen des Menschen und seiner Maschinen in den Orbit. Im Fall von 162173 Ryugu gab es schon durch Fernerkundungsmethoden Hinweise darauf, dass dieser Asteroid sehr ursprünglich geblieben sein muss. Die im Rahmen der Hayabusa2-Mission gesammelten Proben zeigten, dass Ryugu komplexe organische Moleküle sowie Aminosäuren enthält. Und sogar einen Baustein des Erbgutträgers RNA haben die Forscher in dem Asteroidenstaub nachweisen können: die Nukleobase Uracil. Alles fundamentale Bausteine des Lebens.
    Ich stehe also im Dunkel auf dem Fremdkörper, der eigentlich ein Acker ist und betrachte seine Oberfläche im künstlichen Licht durch den Sucher meiner Kamera. Es sieht auf einmal so aus wie auf den Fotos von Hayabusa2, karg und unendlich kalt, eine »bildliche Darstellung des reglosen, geschminkten Gesichtes« (Roland Barthes) von Ryugu 162173. Aber hier, das weiß ich sicher, ist das Leben und hieraus erwächst, was die Menschen brauchen um zu existieren, alle wissen das. Auch meine Fotografien von dem Acker sind das ultimative Versprechen vom Leben und es ist gar nicht so weit weg.